Dienstag, 26. April 2011
der verrat.
unsere meinung, dass wir das andere kennen, ist das ende der liebe, jedesmal, aber ursache und wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind - nicht weil wir das andere kennen, geht unsere liebe zu ende, sondern umgekehrt: weil unsere liebe zu ende geht, weil ihre kraft sich erschöpft hat, darum ist der mensch fertig für uns. er muß es sein. wir können nicht mehr! wir kündigen ihm die bereitschaft, auf weitere verwandlungen einzugehen. wir verweigern ihm den anspruch alles lebendigen, das unfaßbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, dass unser verhältnis nicht mehr lebendig sei. „du bist nicht“, sagt der enttäuschte oder die enttäuschte, „wofür ich dich gehalten habe?“. und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein geheimnis, das der mensch ja immerhin ist, ein erregendes rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. man macht sich ein bildnis. das ist das lieblose, der verrat.
[max frisch - tagebuch 1946-1949]



Montag, 25. April 2011
artengrenze.
der zoologische garten berlin beherbergt die größte anzahl unterschiedlicher spezies aller zoos der welt, ungefähr 1400 arten. er wurde 1844 eröffnet und war der erste zoo deutschlands - die ersten tiere waren geschenke aus der menagerie friedrich wilhelms IV. -, und mit 2.6 millionen besuchern im jahr ist er der bestbesuchte zoo europas. die alliierten luftangriffe 1942 zerstörten fast die gesamte infrastruktus, nur 91 tiere überlebten. (erstaunlich, dass in einer stadt, in der die menschen für brennholz parks abgeholzt haben, überhaupt tiere überlebte.) heute gibt es dort etwa 15 000 tiere. aber die meisten leute wollen nur eines sehen.
knut, seit 30 jahren der erste eisbär, der in dem zoo geboren wurde, kam am 5. dezember 2006 zu welt. seine mutter tosca, eine 20 jahre alte ausgediente zirkusbärin, nahm ihn nicht an, und sein zwillingsbruder starb vier tage später. das ist ein vielversprechender anfang für einen schlechten fernsehfilm, aber nicht für ein leben. der kleine knut hat die ersten 44 tage seines lebens im inkubator verbracht. sein pfleger thomas dörflein schlief im zoo, um ihn rund um die uhr versorgen zu können. dörflein gab knut alle zwei stunden die flasche, spielte ihm das schlaflied "devil in disguise" von elvis auf der gitarre vor und war von oben bis unten voller kratzwunden und blauer flecken vom herumtoben. knut wog bei seiner geburt 810 gramm, aber als ich ihn gesehen habe, etwa drei monate später, war er bereits ungefähr zehnmal so schwer. wenn alles gut geht, wird er eines tages 200- mal so schwer sein.
zu sagen, dass berlin in knut verliebt gewesen sei, wäre eine absolute untertreibung. bürgermeister klaus wowereit schaute jeden morgen in den nachrichten nach neuen bilder von knut. das berliner eishockeyteam, die eisbären, fragten im zoo, ob sie ihn als maskottchen adoptieren könnten. zahllose blogs - darunter eines beim tagesspiegel, einer der größten zeitungen berlins - beschäftigten sich mit knuts tagesablauf. er hatte seinen eigenen podcast und eine webcam. er ersetzte in einigen tageszeitungen sogar das oben-ohne-model.
zu knuts erstem auftritt in der öffentlichkeit erschienen 400 journalisten, weitaus mehr als zum eu-gipfel, der gleichzeitig stattfand. es gab knut-krawatten, knut-rucksäcke, knut-teller, knut-schlafanzüge, knut-figürchen und wahrscheinlich, wobei ich das nicht überprüft habe, knut-unterhosen. knut hat einen paten, sigmar gabriel, dem damaligen deutschen umweltminister. knuts beliebtheit wear sogar schuld am tod eines anderen zootiers, des pandas yan yan. tierpfleger nehmen an, dass die 30 000 besucher, die in den zoo drängten, um knut zu sehen, zu viel für yan yan waren - das hat sie entweder zu tode aufgeregt oder zu tode deprimiert (das war mir nicht ganz klar). und wo ich grade beim tod bin: als ein tierschützer die frage stellte - rein hypothetisch, wie er später betonte -, ob es nicht besser sei, ein tier einzuschläfern, als es unter solchen bedingungen großzuziehen, gingen schulkinder auf die straße und skandierten: "lasst knut leben!" fußballfans grölten für knut statt für ihre mannschaft.
wenn man knut besucht und hunger bekommt, gibt es ein paar meter neben seinem gehege eine bude, die "knutwurst" verkauft. sie besteht aus dem fleisch von schweinen aus massentierhaltung, die mindestens so intelligent sind wie knut und unsere aufmerksamkeit genauso verdient haben wie er. das ist die artengrenze.
[jonathan safran foer - tiere essen]



Freitag, 22. April 2011
andorra.
ich gebe zu: wir haben uns in der geschichte alle getäuscht. damals. natürlich hab ich geglaubt, was alle geglaubt haben, damals. er selbst hat's geglaubt. bis zuletzt. [wirt]

ich bin nicht schuld, dass es dann so gekommen ist. das ist alles, was ich nach jahr und tag dazu sagen kann. ich bin nicht schuld. [wirt]

und ich will, dass du stolz bist, andri, fröhlich und stolz, weil ich dich liebe vor allen andern. [barblin]

ich weiß nicht, wieso ich anders bin als alle. sag es mir. wieso? ich seh's nicht... [andri]

das ist kein aberglaube, oh nein, das gibt's, menschen, die verflucht sind, und man kann machen mit ihnen, was man will, ihr blick genügt, plötzlich bist du so, wie sie sagen. das ist das böse. alle haben es in sich, keiner will es haben, und wo soll das hin? in die luft? es ist in der luft, aber da bleibt's nicht lang, es muss in einen menschen hinein, damit sie's eines tages packen und töten können. [andri]

ich kann nur sagen, dass ich es im grund wohlmeinte mit ihm. ich bin nicht schuld, dass es so gekommen ist später. [tischler]

als wir ihn nochmals fragten wegen fußball, da war er schon zu gut für uns. ich bin nicht schuld, dass sie ihn geholt haben später. [geselle]

ich hasse. ich weine nicht mehr. ich lache. je gemeiner sie sind wider mich, um so wohler fühle ich mich in meinem hass. um so sichrer. hass macht pläne. ich freue mich jetzt von tag zu tag, weil ich einen plan habe, und niemand weiß davon, und wenn ich verschüchtert gehe, so tu ich nur so. hass macht listig. hass macht stolz. eines tages werde ich's ihnen zeigen. seit ich sie hasse, manchmal möcht ich pfeifen und singen, aber ich tu's nicht. hass macht geduldig. und hart. ich hasse ihr land, was wir verlassen werden, und ihre gesichter alle. ich liebe einen einzigen menschen, und das ist genug. [andri]

ich schau dich an. das ist alles. ich habe dich verehrt. nicht weil du mein leben gerettet hast, sondern weil ich glaubte, du bist nicht wie alle, du denkst nicht ihre gedanken, du hast mut. ich hab mich verlassen auf dich. und dann hat es sich gezeigt, und jetzt schau ich dich an. [andri]

ich gebe zu: ich hab ihn nicht leiden können. ich habe ja nicht gewusst, dass er keiner ist, immer hat's gehießen, er sei einer. übrigens glaub ich noch heut, dass er einer gewesen ist. ich hab ihn nicht leiden können von anfang an. aber ich hab ihn nicht getötet. ich habe nur meinen dienst getan. order ist order. wo kämen wir hin, wenn befehle nicht ausgeführt werden! ich war soldat. [soldat]

du sollst dir kein bildnis machen von gott, deinem herrn, und nicht von den menschen, die seine geschöpfe sind. auch ich bin schuldig geworden damals. ich wollte ihm mit liebe begegnen, als ich gesprochen habe mit ihm. auch ich habe mir ein bildnis gemacht von ihm, auch ich habe ihn gefesselt. auch ich habe ihn an den pfahl gebracht. [pater]

und wenn sie die wahrheit nicht wollen? [lehrer]

und ich wollte denken wie er. [senora]

wir wollten eine andere welt. wir waren jung wie du, und was man uns lehrte, war mörderisch, das wussten wir. und wir verachteten die welt, wie sie ist, wir durchschauten sie und wollten eine andere wagen. und wir wagten sie auch. wir wollten keine angst haben vor den leuten. um nichts in der welt. wir wollten nicht lügen. als wir sahen. dass wir die angst nur verschwiegen, hassten wir einander. unsere andere welt dauerte nicht lang. [senora]

alle benehmen sich heut wie die marionetten, wenn die fäden durchinander sind, auch sie, hochwürden. [andri]

er ging oft ans orchestrion, um sein trinkgeld zu verklimpern, und als sie ihn holten, tat er mir leid. was die soldaten, als sie ihn holten, gemacht haben mit ihm, weiß ich nicht, wir hörten nur seinen schrei... einmal muss man auch vergessen können, finde ich. [jemand]

du schweigst... also wovon sollen wir reden in dieser nacht? ich soll jetzt nicht daran denken, sagst du. ich soll an meine zukunft denken, aber ich habe keine... [andri]

ich möchte mich kurz fassen, obschon vieles zu berichten wäre, was heute geredet wird. nachher ist es immer leicht zu wissen, wie man sich hätte verhalten sollen, abgesehen davon. dass ich, was meine person betrifft, wirklich nicht weiß, warum ich mich anders hätte verhalten sollen. was hat unsereiner denn eigentlich getan? überhaupt nichts. ich war amtsarzt, was ich heute noch bin. was ich damals gesagt haben soll, ich erinnere mich nicht mehr, es ist nun mal meine art, ein andorraner sagt, was er denkt - aber ich will mich kurz fassen. [doktor]

ich gebe zu: wir haben uns damals alle getäuscht, was ich selbstverständlich nur bedauern kkann. wie oft soll ich das noch sagen? ich bin nicht für greuel, ich bin es nie gewesen. ich habe den jungen mann übrigens nur zwei- oder dreimal gesehen. die schlägerei, die später stattgefunden haben soll, habe ich nicht gesehen. trotzdem verurteile ich sie selbstverständlich. ich kann nur sagen, dass es nicht meine schuld ist, einmal, einmal abgesehen davon, dass sein benehmen (was man leider nicht verschweigen kann) mehr und mehr (sagen wir es offen) etwas jüdisches hatte, obschon der junge mann, mag sein, ein andorraner war wie unsereiner. ich bestreite keineswegs, dass wir sozusagen einer gewissen aktualität erlegen sind. es war, vergessen wir nicht, eine aufregende zeit. was meine person betrifft, habe ich nie an misshandlungen teilgenommen oder irgend jemand dazu aufgefordert. das darf ich wohl öffentlich betonen. [doktor]

eine tragische geschichte, kein zweifel. ich bin nicht schuld, dass es dazu gekommen ist. ich glaube im namen aller zu sprechen, wenn ich, um zum schluss zu kommen, nochmals wiederhole, dass wir den lauf der dinge - damals - nur bedauern können. [doktor]

duckt euch. geht heim. ihr wisst von nichts. ihr habt es nicht gesehen. ekelt euch. geht heim vor euren spiegel und ekelt euch. [lehrer]

woher kommt ihr, ihr alle, wohin geht ihr, ihr alle, warum geht ihr nicht heim, ihr alle, ihr alle und hängt euch auf? [barblin]

wo, pater benedikt, bist du gewesen, als sie unsren bruder geholt haben wie schlachtvieh, wie schlachtvieh, wo? schwarz bist du geworden, pater benedikt... [barblin]